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Doku: Materialismus als Kritik der Materialismus. Der Komplex Korsch-Langerhans  28/05/2022

Aus der Disposition von „How to overcome totalitarianism?“, 1942; fotografiert von Michael Buckmiller

Vortrag von Felix Klopotek u. Gruppe Polaris

Die materialistische Kritik muss sich selbst materialistisch legitimieren: Was sie erklärt – und wie sie es erklärt –, muss auch auf sie zutreffen; die materialistische Kritik ist somit Gegenstand ihrer selbst.
Das ist eine Aussage hart an der Banalität. Dennoch besteht in der Aufstellung und Durchführung dieses Prinzips die (erste) große Leistung des kommunistischen Aktivisten und Philosophen Karl Korsch (1886-1961). 1923 legte er die Selbstanalyse des Materialismus in seinem damals rasch berühmt gewordenen Werk »Marxismus und Philosophie« vor, das heute als Gründungsdokument eines »westlichen Marxismus« kanonisiert ist und also nicht mehr gelesen wird. Was als Prinzip ziemlich dürr und abstrakt daherkommt, erwies sich praktisch angewendet als hochbrisant. Schon vor 100 Jahren galt zahlreichen sozialdemokratischen Revisonisten und Bereicherern das Marx’sche Werk als Torso, Baustelle, unfertig, voller Konstruktionsfehler. Indem Korsch herausarbeitete, dass sich die Kritik von Marx bestimmten historischen Entstehungsbedingungen verdankte und nur vor dem Hintergrund einer bestimmten Entwicklungsphase der Arbeiterbewegung zu verstehen ist, konnte er auch zeigen, dass für die Marx-Revidierer die gleichen Vorgänge zutreffen: Wo sie auf Fehler und Unzulänglichkeiten der Marx’schen Kritik hinweisen, sprechen sie in Wirklichkeit von sich und ihrer Zeit. Oder besser: die historischen und gesellschaftlichen Umstände sprechen aus ihnen. Damit hatte Korsch Marx den Revisionisten entwunden, und das Werk war wieder offen für die unbefangene Aneignung einer aktivistischen, radikalen Arbeiterbewegung. So sein Kalkül.

Die kommunistische Bewegung, der Korsch »Marxismus und Philosophie« zugedacht hatte, zerfiel schon in den 1920er Jahren und damit löste sich auch der (ersehnte) Zusammenhang von Theorie und Aktion – nota bene: schon vor 1933. Korschs Schüler, Weggefährte und Freund Heinz Langerhans (1904-1976) setzte sich daran – nach seinen Erfahrungen in der sich stalinisierenden kommunistischen Bewegung und leidvollen Jahren im KZ –, den Gedankengang zu radikalisieren: Geschichte ist überhaupt kein gesellschaftliches Feld mehr, auf dem sich proletarischer Aktivismus zurückziehen könnte, die korrekte historische Ableitung des Marx’schen Denkens verbürgt nicht länger die Aussicht auf eine bald wiederzugewinnende Praxis. Stattdessen muss diese Praxis dort gesucht werden, wo sie ultimativ verstellt scheint – unter den Bedingungen des faschistischen/stalinistischen/kapitalistischen Terrorismus.

Korsch und Langerhans stehen exemplarisch für die Anstrengung, die materialistische Kritik zu stärken und zu reformulieren gerade durch die mitleidslose Befragung ihrer eigenen Voraussetzungen. Selbst wenn man zu dem Ergebnis kommt, dass ihre Welt nicht mehr unsere ist, bleibt doch dieses grundsätzliche Verdienst.

Felix Klopotek lebt und arbeitet in Köln. Jüngste Veröffentlichungen: »Rätekommunismus. Theorie und Geschichte« (2021, theorie.org) und »Heinz Langerhans: Die totalitäre Erfahrung. Werkbiographie und Chronik« (2022, Unrast)

Der Vortrag fand im Rahmen des Symposiums „It’s a Material World – Zur Aktualität materialistischer Kritik“ am 14.05.2022 der Gruppe Polaris in Köln statt. Bild: Aus der Disposition von „How to overcome totalitarianism?“, 1942; fotografiert von Michael Buckmiller