Mastodon

Vier Jahre Radio Nordpol – Solidarische Perspektiven nicht nur im Ruhrgebiet 05/02/2024

Dieser Text erschien zuerst in der Graswurzelrevolution vom Februar 2024 (GWR 486)

„Das Ruhrgebiet und NRW brauchen schon länger ein übergreifendes linkes Medium. Als einziges Bundesland ohne ein Freies Radio befinden wir uns vielleicht am Anfang einer nachholenden Entwicklung?“, schreiben die Macher:innen von Radio Nordpol (1). „Wichtig ist uns, dass der Schritt von der Zuhörer:in zur Produzent:in ein kleiner ist, indem wir eine offene Struktur bleiben und Interessierte zu eigenen Produktionen befähigen.“ Am 30.11.2023 waren Aktive von Radio Nordpol zusammen u.a. mit Radiomacher:innen vom medienforum münster, von Radio Fledermaus, Radio Q und Radio Graswurzelrevolution an einer Podiumsdiskussion über „100 Jahre anderes Radio“ beteiligt. (1) Das freie Radioprojekt ist in der selbstverwalteten linken Szenekneipe Nordpol in der Dortmunder Nordstadt entstanden, will solidarische Perspektiven entwickeln und „für eine gemeinsame Suche nach einem Way-Out aus Krisenverwaltung und Kapitalismus“ lokale und globale Prozesse zusammendenken. (GWR-Red.)

Unser Ausgangspunkt war das schlagartige Auftauchen einer neuen Realität mit der Coronavirus-Pandemie im Frühjahr 2020. Wir sind mit dem Radio Nordpol gestartet, um in der Infodemie eine kritische Öffentlichkeit zu ermöglichen, damit in den Zeiten der Zwangspause der (Sub)Kultur- und Politikbetrieb weiterhin agil bleibt. Deshalb haben wir dezentrale Aufnahmemöglichkeiten an die uns nahestehenden kritischen Milieus herangetragen. Gleichzeitig hat dieser Moment der Pandemie etwas ermöglicht, was wir uns zuvor länger schon vorgestellt haben: ein eigenes, selbst verwaltetes und unabhängiges Archiv der Debatten und Aktivitäten in unserem eigenes Spektrum. „Es geht um eine Hör- und Sichtbarmachung von linken Diskursen, Erfahrungen und Reflexionen, die ansonsten in ihren eigenen Bereichsöffentlichkeiten verblieben wären“, heißt es in unserem Selbstverständnis, „um einen lebendigen Möglichkeitsraum für kritische, pluralistische Debatten und wechselseitige, solidarische Bezugnahmen zu erhalten“. Schwerpunkte unseres Programms sind Antifaschismus, Antirassismus, Feminismus, Gesundheits- und Sozialpolitik, Kunst & Kultur sowie ein Kinderprogramm.

Dabei steht der Anspruch, autonome Infrastruktur aufzubauen, eigene Medien zu schaffen, in direkter Tradition der Freien Radios und ihrem Aufkommen in den 1970er-Jahren. Wir bauen nicht mehr selbst illegale Radiosender unter großem persönlichen Risiko der Inhaftierung, wie Radio Fledermaus damals in Münster (siehe Artikel in dieser GWR), sondern haben es in Zeiten digitaler Medien etwas bequemer: Hardware und Software sind relativ günstig und relativ gut verfügbar. Sendelizenzen sind dabei in NRW aufgrund der Struktur des Bürgerfunks weiterhin nicht zu bekommen – das Erbe dieser Hegemonie bürgerlicher Öffentlichkeit lebt bis in die Gegenwart nach. Repression ist ebenso wenig verschwunden, wie gerade wieder die Kriminalisierung der Strukturen von Radio Dreyeckland dokumentieren. Aber die Bedingungen des Widerstands gegen die multiplen, verschränkten Krisen herrschender Verhältnisse haben sich gerade durch die radikale Veränderung medialer Bedingungen sehr verschoben.

Heute ist es relativ einfach möglich, dezentrale Aufnahme- und Sendeinfrastrukturen selbst aufzubauen. Gleichzeitig sichern insbesondere digitale Medienplattformen mittels der Ideologie, jede*r könne selbst Produzentin werden, einen eigenen Podcast, einen eigenen VideoBlog vermarkten, ihre Marktmacht. Die alten Institutionen der bürgerlichen Öffentlichkeiten, das lässt sich nicht mehr verschleiern, sind vollständig abhängig von Massenmedien und Popkultur. Die vielleicht entscheidende Differenz zur Entstehungssituation der Freien Radios, die in den Widerstand gegen eine staatlich abgesicherte mediale Hegemonie treten mussten, ist die zeitgenössisch unendliche Segregation von Öffentlichkeiten und damit einhergehend die weitere Segregation von Erfahrung, die mit der hilflosen und überstrapazierten Metapher der Filterblase beschrieben wird. Die Entgrenzung medialer Möglichkeiten durch digitale Kulturen, die Pluralisierung von Medien und Intensivierung von Zirkulationen, geht mit multiplen Marginalisierungen ebenso wie mit Widerständen, mit dem Entstehen und Schwinden von Teilöffentlichkeiten, mit Intensivierungen und Erschöpfungen von Aufmerksamkeiten einher, die in digitalmedialen Kulturen zum Geschäftsmodell geworden sind. In dieser Perspektive erinnert die Geschichte des Freien Radios daran, dass emanzipatorische soziale Bewegungen auf eine autonome Medienpolitik angewiesen sind.

Radio Nordpol

Website: https://radio.nrdpl.org/
Anmerkung: 1) Radio Nordpol hat die Podiumsdiskussion online dokumentiert auf: https://radio.nrdpl.org/2023/12/04/100-jahre-anderes-radio/
Ursprünglicher Artikel: https://www.graswurzel.net/gwr/category/ausgaben/486-februar-2024/